Letztens stand er da. Einfach so. Er wollte nur mal vorbeikommen und „Hallo sagen“. Ein Mann Ende 30 mit Job, Kindern, einem erfüllten
Leben. Sigrun Schindler lächelt. Sie erinnert sich noch genau daran, wie aggressiv er als Jugendlicher war. Und an das eine Mal, als er gehen sollte und sie anspuckte. „Er war einer der ,wilden‘ Jungs. Und dann steht er da vor mir und ist so ein toller Mann geworden.“ Das sind die ganz besonderen Momente ihrer Arbeit. Seit 25 Jahren ist die 57-jährige Pädagogin im Stadtteil- und Kulturzentrum „MOTTE“ an der Eulenstraße (Ottensen). Ein Ort, der vielen Jugendlichen ein Anker ist.
Manche wollen einfach nur Tee trinken
„Tee?“ Sigrun, eine schlanke Frau mit silberfarbenem Haar und herzlichem Lachen, holt eine Plastikbox mit verschiedenen Sorten und setzt sich an einen der zusammengeschobenen Tische in dem Kellerraum. Früher lagerten hier die Jollen der Segelgruppe. Sigrun entrümpelte, putzte, baute um, so dass 2009 die Do-It-Yourself-Werkstatt (DIY) eröffnet werden konnte. Jeden Montag kommen bis zu zehn Mädchen und junge Frauen zwischen 15 und Mitte 20. Viele leben in den angrenzenden Stadtteilen, einige jedoch sind aus Barmbek oder Bramfeld. Sie bauen Lampen aus alten Verpackungen, malen, stricken oder nähen sich selbst Klamotten.
In der Werkstatt wird aber nicht nur Neues produziert oder Weggeworfenes upcycelt. Es wird auch repariert – von Hosen über Handtaschen und platten Fahrradreifen bis zu Kleinmöbeln. „Die Besucherinnen können machen, was sie wollen. Kerzenziehen, Siebdruck, Holzwerkstatt oder auch Batiken.“ Allerdings müsse man nichts machen. Manche wollen einfach nur einen Tee trinken und sich unterhalten. „Wenn wir ganz nebenbei ins Gespräch kommen, merkt man, wenn etwas im Argen ist und kann helfen.“ Häufig seien es die typischen kleinen und großen Probleme des Jugendalters. Manchmal jedoch sind es „krasse Dinge“. Sexueller Missbrauch. Drogenprobleme. Gewalt. Einige Jugendliche haben mit psychischen Problemen zu kämpfen.
„Großes Thema sind auch Mobbingerfahrungen und das Erleben rassistischer Diffamierung bis hin zu Angriffen – sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Schule und Betrieb. Bei den Werkstattnutzerinnen ist das nicht ein so großes Thema, aber in unseren anderen Arbeitsbereichen begegnet uns das sehr häufig“, sagt Sigrun, die nicht nur für die Werkstatt zuständig ist. Mit dem Team des Jugendbereichs bietet sie auch Beratungen, macht Gremienarbeit und betreut den viermal die Woche stattfindenden Offenen Jugendtreff.
Geschichten, die nahe gehen
Die studierte Kulturpädagogin hat eines ganz sicher in all den Jahren in der Motte gelernt: „Man darf nichts überstürzen. Ganz in Ruhe rangehen und schauen, wo man unterstützen kann. Und auch nur, wenn die Betroffenen das möchten.“ Anfangs war es für Sigrun noch schwer auszuhalten, wenn jemand ihre Hilfe ablehnte. „Ich habe gelernt, damit umzugehen. Es bringt nichts, jemanden zu drängen. Im schlimmsten Fall bricht die Person den Kontakt ganz ab.“ Auch mit den Schicksalen der Jugendlichen kann Sigrun umgehen. Jedoch sind manche Geschichten nicht leicht „wegzupacken“. Dann geht Sigrun an die Luft. Spazieren. Kopf freikriegen.
Mittlerweile nicht mehr im Trubel der Großstadt, sondern auf dem Land. Kürzlich ist sie in die Nähe von Bad Oldesloe gezogen, in einen winzigen Ort. Mit ihrem Partner, einem Kollegen, den sie vor 25 Jahren in der „MOTTE“ kennenlernte. Manches Mal hat die Pädagogin darüber nachgedacht, hinzuschmeißen. „Gerade, wenn es mal richtig rund ging.“ Aber welcher Job sollte besser sein? „Eigentlich ist es hier perfekt. Viel Freiraum, viele Möglichkeiten, eine sinnvolle Arbeit.“
Eine Stütze nicht nur für Mädchen
Christina blickt Sigrun stirnrunzelnd über den Tisch hinweg an. „Will ich dir auch geraten haben, dass du hier bleibst“, sagt die junge Frau grinsend. Christina Harms ist heute 30 Jahre alt. Mit 14 kam sie in die Motte. Anfangs nur für die DIY-Werkstatt. Später jedoch vertraute sie Sigrun und den anderen Mitarbeitern ihre Sorgen an. „Ich litt unter psychischen Problemen und wusste nach der Schule nicht, wo mein Weg hingehen soll.“ Die „MOTTE“ war Christinas Anker. Sie bekam Unterstützung und fand einen Ausbildungsplatz zur Maßschneiderin. Heute gibt die junge Frau zurück. Sie arbeitet ehrenamtlich für den Verein und ist eine Stütze für die Mädchen. In dem 2300 Quadratmeter großen Stadtteilzentrum gibt es verschiedenste Angebote – von Werkstätten, über Beratungsangebote bis hin zu Theatergruppen, Chören, einem Gemeinschaftsgarten und Hühnerhof, einer eigenen Kita, dem Jugend- und Senior:innentreff.
1976 wurde das Stadtteilzentrum für Kultur, Bildung und Sozialarbeit von engagierten Ehrenamtlichen gegründet. Damals wurden nur die unteren Räume der alten Schokoladenfabrik gemietet. Oben war eine Zigarrendreherei. „Da haben die Jugendlichen die Zigarren geklaut“, sagt Sigrun lachend. Damals war das Motto: „Keine Knete vom Staat.“ Heute gibt es Zuwendungen. 26 Mitarbeiter sind angestellt. Mehr als 60 arbeiten ehrenamtlich. Seit der Gründung hat sich das Viertel stark gewandelt. Aus dem abgehängten Stadtteil sei ein Gentrifizierungs-Gebiet geworden. „Trotzdem gibt es noch Menschen, die in prekären Verhältnissen leben. Eine achtköpfige Familie auf zwei Zimmern – das gibt es auch heute noch.“ Es zeigt Sigrun und ihren Kolleginnen und Kollegen immer wieder, wie wichtig ihre Arbeit ist.
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Haspa finanziert der „MOTTE“ die neuen Geräte
Gutes verdient Unterstützung. Mit der Aktion „Die Bessermacher“ wollen wir nicht nur engagierte Menschen zeigen. Die Projekte bekommen auch finanzielle Hilfe und langfristige Unterstützung. Die DIY-Werkstatt der „MOTTE“ wünscht sich Nähmaschinen. Künftig soll ein eigenes Näh-Projekt angeboten werden. Die Haspa kümmert sich um die Finanzierung mit Mitteln aus dem „Haspa-LotterieSparen“. Zudem wird die Haspa Ottensen die Patenschaft übernehmen. „Das dicht besiedelte Ottensen braucht Räume wie die MOTTE, wo man sich frei entfalten kann. Auch unsere Filialen stehen für diese Idee“, so Filialdirektorin Claudia Lempa.
Text: Wiebke Bromberg
Fotos: Florian Quandt
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